Neue Heimat –
Droyßig
Erinnerungen von Jürgen W. Schmidt aus Ojes bei Görkau, Kreis Komotau
Es
war am 15. September 1945, gegen halb zwölf Uhr in der Nacht. Wir kamen mit
einem Zug aus Zeitz (heute Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt). An jedem
Haltepunkt längs der Bahnlinie in Richtung Camburg / Saale waren einzelne
Waggons abgekoppelt worden. Wer zufällig darin war, mußte in diesen Dörfern
bleiben. Beim zweiten Halt blieben mehrere Wagen zurück, Personenwagen und
Güterwaggons. So kamen wir nach Droyßig. Der Rest des Zuges fuhr weiter. Damit
sind bisherige Nachbarn auch hier wiederum getrennt worden. Kretschau,
Weikelsdorf, Weißenborn, Meineweh, Kleinhelmsdorf, Osterfeld und Schkölen sind
weitere Dörfer westlich von Zeitz, in denen unsere Landsleute aus dem Kreis
Komotau angesiedelt wurden. Auch heute noch findet man in der Komotauer
Heimatzeitung einige dieser Ortsbezeichnungen bei den Geburtstagswünschen oder
Todesanzeigen.
Dem Bahnhofsvorplatz gegenüber befand sich die Bahnhofsgaststätte. Von dort her rief der Wirt, er habe ein Vereinszimmer hergerichtet für 10 Personen. Tante Anna Allert aus Kaitz bei Görkau und ihre jugendliche Tochter liefen gleich hin und bekamen dieses Zimmer für unsere beiden Familien. Zur Begrüßung erhielten wir von Herrn Cramer, dem Gastwirt, eine Schüssel mit Obst. Das war eine besondere Freude in dieser Nacht. Endlich hatten wir wieder ein festes Dach über dem Kopf und unsere Großmutter - eine geborene Volkmann - konnte in dieser Stunde, es war bereits nach Mitternacht, ihren 68. Geburtstag begehen. Für sie war es das größte Geschenk, nach den schlimmen Wochen unterwegs, wieder ein bescheidenes Quartier zu haben.
Auch zahlreiche andere Familien aus dem Kreis Komotau
waren in dieser Nacht nach mehrwöchigen Irrwanderungen in diesem Dorf - Droyßig
- angekommen. Einige der Namen sind mir noch in Erinnerung: Seifert, Harzer,
Loos, Triebe, Haupt, Buschej, Linke, Glaser, Rosenkranz, Scheiner, Allert.
Wer waren wir nun, die Familie Schmidt; oder wie man zu
Hause sagte "Schmied"? Leider nur eine halbe Familie. Meine Mutter, 29 Jahre
alt, meine Schwester, ein Wickelkind mit vier Monaten, Großmutter 68 Jahre und
ich mit knapp Sechs.
Ich war das erste Kind - 1939 geboren. Im April 1945
bekam ich noch eine kleine Schwester. In Ojes erlebte ich 1945 das Kriegsende
als Kindergartenkind.
Fliegerallarm
gab es manchmal, aber keine größeren Schäden. Auch mit den russischen Soldaten
kamen die Einwohner relativ gut zurecht. Mein Vater konnte sie mehrmals mit
„Wodka“ gütlich stimmen. Mitte Mai 1945 jedoch erschienen frühmorgens
tschechische Partisanengruppen und verhafteten meinen Vater und brachten ihn
in ein Lager in Görkau (Kühnefabrik), obwohl er kein
Soldat war. Am 5. Juni wurden diese (98) Gefangenen
ins KZ nach Komotau verbracht. Zusammen mit zahlreichen anderen Deutschen erschoß man ihn am 7.
oder 8.
Juni 1945 in der Glashütte in Komotau. Es gab keine Begründung, kein Urteil – er
war eben Deutscher und an diesen mußte man sich rächen.
Nach 75 Jahren (2020) tauchte das
Erschießungsprotokoll auf. Am 30. August 1945 bekam
unsere Mutter die schriftliche Ausweisung für die Familie, samt Schwiegermutter.
Die wenigen erlauben Habseligkeiten verstauten wir in einem zweirädrigen
Handkarren und im Kinderwagen. An diesem Tage ist die Hälfte der Einwohner von
Ojes und Kaitz ausgewiesen worden. Unter Beschimpfungen, Drohungen und Schlägen
kamen wir
in Görkau in einen Zug mit offenen Güterwagen.
Dieser brachte uns bis Reitzenhain bei Marienberg an der sächsische Grenze. Von
dort an hieß es für alle: Laufen von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt; ob jung
oder alt, ob einigermaßen gesund oder alt und krank. Wohin, wußte keiner. Etwa
zwei Wochen zog unser Treck durch Sachsen bis kurz vor Leipzig. Dann ging es mit
der Eisenbahn weiter bis zum "neuen Heimatort Droyßig“. In der SBZ und später in
der DDR hatten es die meisten Vertrieben schwerer, als diejenigen unserer
Landsleute, die erst 1946 vertrieben wurden und nach Westdeutschland kamen.
Mein Anliegen ist es aber nicht zu klagen, sondern aus der
Sicht eines damaligen Schulkindes, vom Ort und von den Menschen der neuen
Heimat zu berichten. Droyßig hatte am 1.10.1945 zusätzlich zu seinen ca.
2000 Einwohnern 1330 Vertriebene in seinen Mauern. Davon war die größte Gruppe
die der Sudetendeutschen mit 452 Personen. Dazu kam ein
Haubitzen-Artillerie-Regiment mit ca. 3000 russischen Soldaten und Offizieren.
Das Schloß, das ehemalige Oberlyzeum und die Häuser an der Lindenstraße
wurden von diesen Soldaten belegt. Kurze Zeit vorher waren auch die „Amerikaner“
in Droyßig.
Es war alles recht bescheiden, aber ich denke gern zurück an das Leben im Hause Rosenheinrich. Der einzige Mann im Hause war Fritz. Er arbeitete als Elektriker in der Stadt Zeitz. Von Anfang an mochte er mich, aber er zeigte auch manchmal eine gewisse väterliche Strenge. Im Garten erklärte er mir Bäume und Pflanzen, half mir beim Bau einer Schleuder, verbot mir aber auch im Hof Fußball zu spielen. Fritz Rosenheinrich weckte mein Interesse für die Elektrizität und für die Rundfunktechnik, meinem späteren Beruf. Im Hausgarten standen zahlreiche Obstbäume und die Eigentümer konnten gar nicht alles verarbeiten. So bekamen wir "Umsiedler" von ihnen manchen Korb voll kostbarer Früchte. Eine besondere Aktion in diesem Hause war jeweils im Herbst das Kochen der Pflaumen und Zuckerrüben. Unter Beteiligung aller Bewohner wurden die Pflaumen gewaschen, zerteilt und im Waschkessel im Keller zu einem wunderbaren Mus gekocht. Dabei mußte besonders aufgepaßt werden, damit nichts anbrennt. Die Arbeit dauerte meist einen Tag und eine ganze Nacht lang. Bei den Zuckerrüben war es ähnlich. Nur wurde der ausgekochte Saft später von jeder Familie selbst auf dem Ofen zu Sirup eingedickt. Alle bekamen ihren gerechten Anteil. Hier waren wir wie eine Familie, die in der Not zusammenhalten mußte.
In Droyßig gab es für mich unzählige Beispiele dafür, daß man uns nicht als dahergelaufenes Gesindel, oder als "Sudetengauner" bezeichnete, wie es leider manchmal unterwegs bei der Vertreibung geschehen war, sondern hier wurden wir als Menschen in Not behandelt. Die meisten von den "Einheimischen" begriffen, daß es ein großes Glück war, wenn sie ihren Hof, ihr Haus, ja ihre Heimat nicht verlassen brauchten und nicht im gleichen Maße wie wir, für den Krieg bezahlen mußten. Diese Erkenntnis bildete meiner Meinung nach die Grundlage für das gute Einvernehmen zwischen der Mehrzahl der Einwohner. Allerdings verstanden es einige der Einheimischen Droyßiger kaum, daß wir zu Hause auch unsere eigenen Häuser, Grundstücke, Bauernhöfe und Handwerksbetriebe besaßen. So in Komotau, Görkau, Rothenhaus, Hohenofen, Türmaul, Wurzmes, Kaitz, Ojes und wo die Vertriebenen sonst noch herkamen. Viele unserer Eltern und Großeltern litten anfangs recht stark unter den negativen Erscheinungen der Integration. Sie trugen viel schwerer daran, als wir Kinder.
Weitere unvergeßliche Helfer in dieser schweren Zeit
waren für unsere Familie auch einige Nachbarn an der Waldstraße. Beispielsweise
die Familie des Tischlermeisters Röblitz mit Tochter Gisela sowie die
katholische Frau Tympel aus dem Hinterhaus. Ebenso Sattlermeister Kettner, bei
dem wir später wohnten und Frau Stauch aus der Fleischerei, die mir manchen
Wurstzipfel zusteckte. Weil ich ihm gern bei der Arbeit zusah, zeigte mir
Meister Kettner wie man mit einem Faden und zwei Nadeln eine feste Naht
herstellen kann. Meinen Schulranzen reparierte ich von da an immer selbst.
Es war
klar, fast alle unsere Eltern hatten die Hoffnung auf eine Rückkehr, auf ein
"Heimkommen" in die angestammten Städte und Dörfer, in die vertraute Landschaft,
lange Zeit nicht aufgegeben. Sie wollten, mundartlich gesprochen: "wieder e
ham".
Da
waren nicht nur Spannungen, Streit, Mißtrauen und Unverständnis, sondern auch
öffentliche Auseinandersetzungen, falsche Anschuldigungen, Diebstahl,
Schlägereien, Untreue und manch Anderes zu verzeichnen. Das gab es auf beiden
Seiten, - bei der Dorfbevölkerung, bei den Vertriebenen und auch zwischen beiden
Gruppen. Die Menschen mussten sich, ob sie es wollten oder nicht, mit der
Nachkriegssituation abfinden und sich aneinander gewöhnen. Aber das war nicht so
leicht. Oftmals hörte man die "Altdroyßiger" sagen: "Ohne die vielen Flüchtlinge
und Umsiedler würde es uns viel besser gehen".
Droyßig ist und bleibt für mich trotzdem
ein besonderes Dorf mit seinen Wäldern
und Feldern, mit seiner 830jährigen Geschichte und mit seinen Menschen. Es ist gleich
von welcher Seite man sich dem Ort nähert, stets sieht man zuerst die drei
wichtigsten Türme: vom Schloß, von der Anstalt (Oberlyzeum / Gymnasium) und von
der evangelischen Kirche. Von diesen drei Einrichtungen ging auch früher das
besondere Leben des Dorfes aus. Kurz nach dem Krieg konnte man noch einiges
davon spüren. Die Bildungsangebote der damaligen Heimoberschule und des
Lehrerinstitutes mit Vorträgen von international bekannten Persönlichkeiten und
mit Musikdarbietungen sind mir gut in Erinnerung. Ebenso erwähnenswert sind die
zahlreichen stattlichen Bauernhöfe in Droyßig und in Hassel.
Ich glaube aber auch, daß Droyßig durch die zahlreichen
"Neubürger" sehr gewonnen hat. Viele von ihnen haben durch ihre Arbeitskraft und
durch ihren Fleiß zum Wachstum des Ortes beigetragen. Neue Familienbande
zwischen Altdroyßigern und Zugezogenen belebten und ergänzten in vielfacher
Weise das Leben im Dorf. Trotzdem
gibt es auch heute und in Zukunft noch einiges zu tun, damit Droyßig ein
ansehnliches Dorf, ein Dorf mit besonderer Geschichte bleibt. Schloß und Anstalt
(jetzt Christophorus-Gymnasium) sollten wieder einigermaßen zu früherem Niveau
zurückfinden.
Ich komme selten, aber jedesmal gern in meine Heimat der
Schulzeit. Hier sind meine Mutter, Großmutter, Stiefvater, Onkel und Cousine
begraben; hier habe ich viel gelernt; hier bin ich guten Menschen begegnet; auch
meine liebe Frau habe ich hier gefunden; ein paar Freunde sind mir noch
geblieben. Nach der Grundschulzeit bin ich 1954 nach Erfurt in die
Berufsausbildung gekommen. Leider starb meine Mutter noch am Ende des gleichen
Jahres. Mit 15 Jahren mußte ich auf eigenen Füßen stehen lernen. Durch gute
Freunde und besonders durch langjährige Begleitung von hervorragenden Lehrern
und Priestern konnte ich meinen Weg gehen, einen Beruf ausüben, in einer guten
Familie mit mehreren Kindern leben und meinem kath. Glauben und meiner Heimat
treu bleiben.
Ab etwa 1968 war es möglich geworden, die alte Heimat zu
besuchen. Vieles hatte sich verändert, was man als Kind von zu Hause noch wußte.
Die Tagebaue zwischen Brüx und Görkau waren sehr erweitert worden. In den 1970er
Jahren fielen zahlreiche Orte dem Raubbau zum Opfer; auch Ojes und Kaitz, meine
Heimatorte aus Kindertagen. Erfreulich ist, daß in unsere liebliche
Wallfahrtskirche in Quinau, oben im Gebirge, seit der „Samtenen Revolution“
wieder Leben einzieht; daß im Juli jeden Jahres regelmäßige
Wallfahrtsgottesdienste stattfinden und die tschechischen Christen diesen
670jährigen Wallfahrtsort nun auch als den ihrigen angenommen haben und bewahren
wollen.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde es auch in
den neuen Bundesländern erlaubt, daß sich die Sudetendeutschen öffentlich zu
ihrer böhmischen Heimat bekennen, sich mit Landsleuten treffen und ihre
Traditionen pflegen. Darum konnten wir unsere Erlebnisse und Erinnerungen erst
nach vielen Jahren der Vertreibung, die mehr als 50 Jahre verschüttet waren, aus
dem Gedächtnis hervorholen und für interessierte Leser veröffentlichen.
Ich wünsche mir, daß auch andere Landsleute aus Komotau und
der Umgebung, die bisher keine Möglichkeit oder keinen Mut dazu hatten ihre
Erinnerungen aufzuschreiben, dieses bald nachholen. Denn wenn wir als
Erlebnisgeneration das nicht tun, wird vieles für immer verloren sein. Ich
glaube, daß die meisten von uns ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln gern von
unserer Heimat, vom Erzgebirge und vom Saazerland, vom gesamten deutschen
Sudetenland, erzählen. Auch wenn diese jetzt nicht viel Interesse zeigen, so
werden sie bestimmt später nach ihren Wurzeln suchen und in unseren
Aufzeichnungen fündig werden.
(J.W. Schmidt 2005 und 2011)