- Der Heimatlose ist jener, dessen Heimat
sich in Fremde verwandelte.-
( Ausspruch von
Eleonore van der Straten-Sternberg)
Abschied von Görkau (Jirkov) - Bericht
von Rudolf Jansche
Die Stadt Görkau liegt am Fuße des Erzgebirges zu beiden Seiten
der Biela und etwa fünf Kilometer von Komotau entfernt. Bei Ende des
Zweiten Weltkrieges lebten hier etwa 6.000 Menschen.
Es war Anfang Mai 1945. Ich war 11 Jahre alt. Es war eine unheimlich
aufregende Zeit. Der Führer war tot. Entsetzlich. Endlich. Ob Vater
den Krieg als Soldat an der Westfront lebend überstanden hatte,
wußten wir nicht.
In den letzten Jahren war ich nur noch sehr
unregelmäßig zum Dienst in der DJ (Deutschen Jugend) erschienen.
Herumkommandiert zu werden, egal von wem, war mir verhaßt. Da kam
dann schon mal der lokale Hilfspolizist in Uniform, Konditormeister
Gröbner ins Haus, entschuldigte sich bei meiner Mutter und nahm mich
anschließend zur Polizeiwache mit, wo ich einige Stunden Arrest absitzen
mußte. Wahrscheinlich waren ihm solche Situationen peinlich. Von Mutter
bekam ich deswegen keine Vorwürfe zu hören. Dienst, Drill,
Marschieren, all diese äußeren Zwänge waren mir zuwider. Viel
lieber durchstreifte ich, allein oder mit einem Freund, Wälder und Wiesen.
Ab und zu stand ich abseits am Straßenrand, wenn die örtlichen
Einheiten der HJ (Hitler Jugend) vorbei marschierten. Zwischen ihren Liedern
brüllte dann der Anführer: "Judas verrecke" worauf die Kolonne
"Deutschland erwache" schrie. Ich spürte, wie ich jedesmal eine
Gänsehaut bekam.
Ich kannte überhaupt nur einen einzigen Juden. Der
hieß Willi Fleischer, war immer sehr freundlich und schenkte uns Kindern
manchmal gelbe Paradeiser (Tomaten). Auf seinem Rock trug er einen gelben
Judenstern. Eines Tages, noch ehe der Krieg zu Ende ging, war er spurlos
verschwunden.
Nun also, da alles verloren war, hatte sich der
heißgeliebte Führer umgebracht. In der kleinen Stadt Görkau,
die heute Jirkov heißt, ging es drunter und drüber. Deutsche
Soldaten fluteten vor den anrückenden Russen zurück. Zusammen mit
Flüchtlingstransporten verstopften sie die Straßen. Dann rückte
der kümmerliche Volkssturm aus, um Panzersperren zu errichten. Sinnlose,
letzte Akte purer Verzweiflung. Am Abend des 8. Mai kamen die Russen in die
Stadt.
Wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, wohnten in der Ottostraße
Nr. 752/14. Das Haus trug den Namen Hildegard und hatte einen sehenswerten
Steingarten. Es gehörte dem kinderlosen Ehepaar Franz und Hildegard
Günzel. Mutter war nur einige Straßen weiter zu Großmutter
Agnes in die Heinrich-Schmatz-Straße geflüchtet. Bei ihr hatten
sich englische Kriegsgefangene einquartiert. Dort war sie sicher vor den
Vergewaltigungen durch russische Soldaten.
Mein um drei Jahre älterer
Bruder Gustl und ich waren allein in der Wohnung, als die Haustür
krachend aufflog und plötzlich ein hünenhafter Russe mit der
Maschinenpistole im Anschlag vor uns Kindern stand. Aus dem ersten Stock kam der
wohlbeleibte, gutmütige alte Hausbesitzer, der wie ein großer
Teddybär aussah, die Treppe herunter und streckte dem Russen die Hand
entgegen mit den Worten: "Mein Name ist Günzel, ich war weder bei der SA
noch bei der SS." Der Russe schaute ihn nur verständnislos an, schob ihn
zur Seite und durchsuchte die Wohnung. Andere russische Soldaten, darunter
auch weibliche, folgten und ließen sich im Wohnzimmer nieder. Bald
darauf kreisten die Wodkaflaschen, die Soldaten begannen zu singen. Die
Russinnen fingen an, Gustl und mich abzuküssen. Am nächsten Morgen
verschwanden sie wieder.
Die ganze Wohnung stank nach Schnaps und kaltem
Zigarettenrauch. Ich rannte aus der Wohnung, um Mutter zu holen. An der
nächsten Straßenecke lag ein toter deutscher Soldat. Seine weit
aufgerissenen leblosen Augen starrten gläsern in den grauen Himmel.
Entsetzt rannte ich weiter. Noch zwei Tage lag der Soldat so da. Dann war er
verschwunden.
Etwa eine Woche später erschien ein tschechisches Ehepaar
und bedeutete Mutter, daß wir die Wohnung zu räumen hätten,
sie sei beschlagnahmt. Wir durften mit ein paar Möbelstücken in
die Mansarde umziehen, in einen Raum im Dachgeschoß.
Bald darauf
begannen die wilden Vertreibungen. Wer davon betroffen war, hatte nur wenig
Zeit, ein paar Habseligkeiten zusammenzupacken. Dann ging es mit einem
Transport in Viehwaggons irgendwohin ins Altreich. Das war Deutschland in
den Grenzen von 1937. In Görkau gab es bald viele leerstehende Wohnungen.
Die Tschechen in unserer Wohnung fühlten sich durch die Anwesenheit
von Deutschen belästigt, deshalb dauerte es nicht lang und wir
mußten das Zimmer in der Mansarde räumen. Wir wurden in ein Haus
in der "Oberen Zeche" einquartiert. Dort war mehr Platz als in der Mansarde.
Außerdem gehörte zum Haus, das einmal Eigentum des örtlichen
Gerichtsvollziehers Antl war, noch ein kleiner Garten.
Bruder Gustl fand mit
seinen 15 Jahren eine Arbeit im Hydrierwerk Maltheuern. Dadurch kam die
Familie zu etwas Geld. Es reichte gerade, um die nötigsten Lebensmittel
zu kaufen. Immer wieder gab es Razzien. Deutsche wurden dann aus ihren
Wohnungen geholt und abtransportiert. Das war ein Lotteriespiel mit
umgekehrten Vorzeichen. Man wußte nicht, wen es treffen würde,
aber wen es traf, der war, bis auf ein paar Habseligkeiten, sein gesamtes
Vermögen ein für allemal los. Mitunter traf es Menschen auch noch
schlimmer, mal mitten ins Herz, dann wieder ins Genick. Bei einer dieser
wilden Razzien fielen auf dem Nachbargrundstück plötzlich
Schüsse. Tschechische Soldaten hatten den Nachbarn erschossen. Angeblich
wurde beim Durchsuchen seiner Wohnung eine Waffe gefunden. Homo homini lupus
est - Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf - so beschrieb schon im 16.
Jahrhundert der englische Philosoph Thomas Hobbes den Alptraum der Menschheit:
die völlige Gesetzlosigkeit.
Am 8. Juni 1945 kursierten wilde Gerüchte in der Stadt. Im Lager
Glashütte in Komotau soll es zu brutalen Ausschreitungen gegen Deutsche
und zu Erschießungen gekommen sein. Am nächsten Tag, um die
Mittagszeit, wurde die Görkauer Bevölkerung aufgefordert, alle
Fenster und Vorhänge zu schließen. Einige Straßenzüge
und Plätze in der Stadt wurden daraufhin streng kontrolliert. Keiner
wußte warum. Erst Jahre später erfuhr ich von einem Augenzeugen,
was sich Schreckliches an diesem Tag im nahen Komotau, wo ich bis 1945 zur
Oberschule ging, wirklich ereignet hatte.
In das Haus auf der Oberen Zeche war inzwischen die Frau des örtlichen
Konditormeisters Hanni Renner (Jahrgang 1902) zusammen mit ihren beiden
Kindern Christl (Jg. 1936) und Horst (Jg. 1938) eingezogen. Der
Eigentümer und seine Frau waren längst von einer der zahllosen
ethnischen Säuberungswellen erfaßt worden und hinweggetrieben.
Unter Frau Renners Habseligkeiten befanden sich sämtliche Karl May
Bände. Für mich war das ein Geschenk des Himmels. Es gab ja keine
Schule für deutsche Kinder. Da kamen die spannenden Bücher gerade
recht. Ich verschlang sie alle. Die Tage waren angefüllt mit Lesen und
Ungewißheit. Die Familie lebte von den wenigen Kronen, die Bruder
Gustl als Lohn nach Hause brachte. Da es für Deutsche keine Zeitungen
gab und der Besitz von Rundfunkgeräten verboten war, wußte auch
niemand was in der Welt vor sich ging. Wer sich als Deutscher auf die
Straße begab, mußte auf dem linken Oberarm eine 10cm breite
Armbinde tragen. Bereits um 20 Uhr begann die Ausgangssperre.
Görkau war
eine deutsche Stadt. Der Anteil der Tschechen lag weit unter zehn Prozent.
Die Stadt wurde immer leerer und die Heimat zur Fremde. Sehr bald kam der
Zeitpunkt, da jeder nur noch weg wollte. Raus aus dieser Atmosphäre des
Schreckens und der Angst. Eines Tages war auch Großmutter Agnes nicht
mehr da. Evakuiert irgendwohin ins Altreich. Obwohl immer mehr Häuser
leer standen, mußten wir die Wohnung auf der Oberen Zeche wieder
räumen und eine armselige Behausung mit reichlich Ungeziefer in der
"Totengasse" beziehen. Als wir dort einzogen, stand das eingetrocknete
Essen des früheren Bewohners noch auf dem Tisch.
Ende Juni 1946 standen unsere Namen endlich auf den am Marktplatz beim
früheren Gasthaus Wolfgang ausgehängten Evakuierungslisten. Die
Zeit der wilden Vertreibungen, des brutalen Quälens und wüsten
Mordens war inzwischen vorbei. Es handelte sich schon um einen geordneten
"Transfer" oder eine "Umsiedlung".
Am 2. Juli transportierten wir die uns
noch verbliebenen Habseligkeiten zum Sammelplatz im Hotel Roß. Einige
Hundert-Reichsmarkscheine hatte Mutter zum Teil in den Nähten der
selbstgefertigten Säcke versteckt. Das meiste Geld, der inzwischen
nahezu wertlosen Währung, hatte sich die Familie unter die Schuhsohlen
genagelt. Auf LKWs ging es nach Komotau, in die Poldihütte, ein
großes Sammellager, wo sämtliche Personen gründlich gefilzt
wurden. Wer noch tschechisches oder deutsches Geld oder Schmuck besaß,
hier wurde er sogleich davon befreit und von so manchem anderen auch. In
einem anderen Raum wurden Kopf und Brust mit einem Desinfektionspulver gegen
Ungeziefer bestäubt. Die tschechischen Soldaten durchwühlten die
in Säcken und Körben verstauten Habe auf der Suche nach Brauchbarem,
erst dann durften die mit Strohsäcken ausgestatten Baracken bezogen
werden. Neun Tage durften die Menschen den Aufenthalt im
stacheldrahtumzäunten und von Soldaten bewachten Lager genießen,
ehe es weiter ging.
Am 9. Juli gab es das Geld für die Einreise nach
Deutschland. 500 Reichsmark pro Person. Am 11. Juli um 4 Uhr morgens
hieß es: "Alles aufstehen". Gepäck und Menschen wurden in 40
bereitgestellte Güterwaggons verladen. 30 Personen plus Gepäck pro
Waggon. Die Görkauer kauerten in den Waggons 13 bis 20 auf ihren
Säcken. Kurz nach 11 Uhr verließ der Zug den Hauptbahnhof Komotau
in westliche Richtung. Wird es Bayern sein? Bayern war amerikanische
Besatzungszone. Darauf hofften die Menschen. Zu sehen gab es von den
fensterlosen Waggons aus für mich nichts. Der letzte Stop auf
tschechischer Seite war Türschnitz / Tršníce. Hier gab es noch etwas Brot
und Kaffee, bevor sich der Zug gegen 17:30 Uhr wieder in Bewegung setzte.
Als
beim nächsten Halt die Schiebetür geöffnet wurde, war die
Enttäuschung riesig. Bad Brambach in der sowjetischen Zone. Immerhin,
die Aufschriften waren in der vertrauten deutschen Sprache. Die Menschen
streiften ihre weißen Armbinden ab. Ein Hauch von Freiheit war zu
spüren. Die tschechischen Peiniger rollten wieder zurück. Der Zug
schnaufte weiter durch die Nacht und niemand wußte wohin.
Am 13. Juli 1946 vormittags rollte der Transport mit 1200 Heimatlosen in den
Bahnhof Torgau an der Elbe. Endstation. Vom Bahnhof ging es in die ehemalige
Festungsanlage der Stadt. Auf der Ostseite des Flusses lag der Festungsteil
Brückenkopf, früher eine alte Verteidigungsanlage gegen Angriffe
aus dem Osten, jetzt ein Lager für Vertriebene, die in der sowjetischen
Besatzungszone "Umsiedler" hießen. Zwei Wochen verbrachten die Menschen
im Lager, bis sie auf die umliegenden Ortschaften aufgeteilt wurden. Mutter,
Gustl und ich kamen nach Bad Liebenwerda, wo wir ein Zimmer in der Wohnung
einer Kriegerwitwe mit zwei Kindern zugewiesen bekamen.
Mit dem Verlassen der Festung Torgau und der Verteilung der Vertriebenen auf
Dörfer und Städte war das Leid der Menschen keineswegs zu Ende.
Der Zeitpunkt, an dem insgesamt über 11 Millionen Flüchtlinge und
Vertriebene nach Deutschland strömten, hätte schlechter gar nicht
sein können. Denn hier war das Land von der totalen Kapitulation, von
Zerstörung, vom völligen Zusammenbruch und Elend einer hungernden
und orientierungslosen Gesellschaft gezeichnet. Als Neuankömmlinge waren
wir daher weder willkommen noch akzeptiert, sondern völlig besitzlose
Gäste, an deren dauerhaftes Bleiben anfangs niemand so recht glauben
wollte. Sie trafen im Alltag auf eine ebenso breite wie unterschwellige
Ablehnungsfront. Zwangseinquartiert in die Wohnstuben und Küchen der
Einheimischen schwelte zwischen beiden Bevölkerungsgruppen bald ein
kalter Krieg und Verteilungskampf um Wohnraum, Versorgung und angemessene
Arbeit.
Hinzu kam, daß nach den Planungen der Besatzungsmächte zwar
Familien zusammenbleiben konnten, Dorf- und Stadtgemeinden aber absichtlich
weitgehend auseinander gerissen wurden. Dies sollte verhindern, daß
sich aufs Neue eigenständige Gruppen bildeten und von ihrer Umwelt
abkapselten. Sogar das Tragen landsmannschaftlicher Abzeichen, die ihre
Herkunft verrieten, war verboten. Und zur Verhinderung der Bildung
künftiger "Minoritätszellen" erließen die
Besatzungsmächte zudem ein Koalitionsverbot, das - entgegen dem
besatzungspolitischen Ziel einer Demokratisierung Nachkriegsdeutschlands -
den Zwangszuwanderern die Gründung eigenständiger Organisationen
zur Vertretung ihrer Interessen strikt untersagte. Sie sollten möglichst
schnell in ihrer Aufnahmegesellschaft aufgehen, sich ihr einseitig anpassen,
in ihr regelrecht verschwinden, das, was ihre Identität ausmachte,
völlig aufgeben. Kritik an den alliierten Maßnahmen war untersagt,
eine Mauer des Schweigens zog sich um die unmittelbaren Erfahrungen der
Vertriebenen. Nur stellenweise wurde sie durchbrochen von den Kirchen, die
sowohl die einheimischen Deutschen als auch das Ausland auf die Schwere des
Schicksals derer aufmerksam zu machen suchten, die im Amtsdeutsch der
Sowjetischen Besatzungszone euphemistisch als "Umsiedler" und in den
westlichen Besatzungszonen ebenso unzutreffend als "Ostflüchtlinge"
bezeichnet wurden.
So waren die Vertriebenen die eigentlichen Verlierer des zweiten Weltkriegs.
Nicht nur, daß sie ihr Hab und Gut, ihre Heimat und ihre Freunde und
Bekannten verloren hatten und vielfach einen sozialen Abstieg hinnehmen
mußten, jetzt fanden sie sich in einer überwiegend abweisenden
und frostigen Umgebung wieder.
Heute, über ein halbes Jahrhundert später, fühlen sich die
Sudetendeutschen, denen erst 1955 die volle deutsche Staatsbürgerschaft
zugesprochen wurde, aber von der Bayerischen Staatsregierung 1962 als Stamm
unter den Stämmen Bayerns offiziell anerkannt wurden, in ihrer Mehrzahl
nicht mehr als Bürger zweiter Klasse. Wer die Vertreibung als kleines
Kind erlebte und keine oder nur wenig Erinnerung an diese Zeit hat oder wer
hier als Nachfahre von Vertriebenen geboren wurde, hat ohnehin eine andere
Sichtweise.
Wie es mir weiter erging, habe ich schon an anderer Stelle berichtet.
(Siehe dazu mein Büchlein "Geschichten für Philipp") Es braucht
hier nicht wiederholt zu werden.
Rudolf Jansche
D 69259 Wilhelmsfeld